Lotos Mudra und die symbolische Bedeutung der Lotos-Blume

 
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Heute möchte ich gerne ein Mudra vorstellen, dass wir seit letzter Woche in meinen Yogakursen üben. Hierbei gilt es natürlich zuallererst du klären, was ein Mudra überhaupt ist.

Die wörtliche Übersetzung von Mudra lautet «Siegel». Mudras sind einerseits symbolische Handgesten, können jedoch auch den ganzen Körper miteinbeziehen. Sie finden ihre Anwendung sowohl im alltäglichen Leben im asiatischen Raum (z.B. die weitherum bekannte Begrüssungsgeste Namaste), in der religiösen Praxis, im indischen Tanz und eben auch im Yoga.
Im Yoga entsprechen bzw. symbolisieren Mudras einen bestimmten Energie- und Bewusstseinszustand und fördern die Konzentration auf diesen. Die Idee ist, Körper und Geist mit einer Mudra-Stellung zu einem resonierenden Teil für die «kosmische» Schwingung werden zu lassen.

Dies soll nun anhand von Lotos-Mudra weiter erläutert werden. Um Lotos Mudra zu formen, halte die Hände auf Höhe des Herzens. Die Handgelenke berühren sich. Spreize alle Finger und führe dann nur Daumenspitze auf Daumenspitze und kleinen Finger auf kleinen Finger. Die anderen Finger werden kelchartig zum Himmel hin geöffnet.

Um etwas über die Wirkung von Lotos Mudra zu erfahren, empfiehlt es sich, die symbolische Bedeutung der Lotosblüte genauer anzusehen. Diese hat aussergewöhnlich vielfältige Bedeutungen, die eine genauere Betrachtung sehr wertvoll machen.

Die Lotosblüte wächst oft in schlammigen Gewässern, wird aber dank der noppenartigen Struktur ihrer Blütenoberflächen nie schmutzig. Bei Sonnenuntergang verschliesst sie ihre Blüten und versinkt unter der Wasseroberfläche, um beim nächsten Tageslicht wieder makellos an die Wasseroberfläche zurückzukehren. Aus diesem Grund steht sie als Symbol für Reinheit, Weisheit, Schönheit (des Herzens), für Liebe, Offenheit und Empfänglichkeit.

Doch warum wird Lotos Mudra vor dem Herzraum gehalten? Und welche Bedeutung hat dieser Körperraum im Yoga?

In den Upanishaden (die ältesten Texte, in denen man etwas über Yoga lesen kann – ca. 800 v. Chr.) wird der Herzraum als Wohnstätte unserer unsterblichen (göttlichen) Seele, genannt atman, beschrieben. Eine der ältesten Meditationsformen des Yoga ist demzufolge die Konzentration auf den Herzraum. Dies kann auch ganz einfach im 21. Jahrhundert noch so praktiziert werden, ohne dass man dabei gleich religiös oder spirituell werden muss.

Wende einfach deine Konzentration auf den Ort in deinem Körper, den du als deinen Herzraum wahrnimmst. Wichtig ist dabei, dass der symbolische Herzraum nicht identisch mit dem physischen Herzen sein muss. Für mich ist er hinter dem Brustbein auf der zentralen Körperachse d.h. zwischen rechts und links lokalisiert. Wie fühlt sich dieser Raum hinter dem Brustbein an? Weit und offen? Angenehm oder unangenehm? Gibt es Gefühle, die aufsteigen, wenn ich meine Konzentration hierhin lenke? Angenehme oder unangenehme Gefühle? Etc.

Eine Grundregel des Meditierens lautet bekanntlich, dass man die gewählte Meditationsform nicht zu oft wechseln sollte, falls man Tiefe erfahren möchte. Wer mit einer gewissen Regelmässigkeit – z.B. einmal oder gar mehrmals pro Tag seine Aufmerksamkeit in den Herzraum lenkt, wird früher oder später feststellen, dass es sich hier mit Sicherheit nicht immer gleich anfühlt. Wie eine Lotosblüte zeigt sich dieser besondere Körperraum mal weitgeöffnet und in voller Blüte, mal eher geschlossen und sozusagen im «Ruhemodus».

Wenn man die Konzentration auf den Herzraum über einen längeren Zeitraum praktiziert, wird man auch feststellen, wann er sich eher weit und offen und wann eher geschlossen anfühlt. Bei mir beispielsweise führt ein zu intensives Arbeitspensum mit zu wenigen Ruhepausen dazu, dass sich der Herzlotos zu schliessen beginnt. Andere Gründe, die zu einem Verschliessen des Herzraums führen sind natürlich emotionale Verletzungen, die in jeder näheren Beziehung unweigerlich früher oder später geschehen.

In einem nächsten Schritt ist es interessant zu beobachten, ob ich – bei eher geschlossenem Herzraum – auch in der Lage bin, an diesem Zustand etwas zu ändern. Damit sich an diesem Zustand etwas ändern kann, ist es – wie eigentlich immer im Yoga – paradoxerweise zuallererst einmal wichtig, dass ich eben gerade nichts daran ändern möchte. Ich schaue einfach hin und nehme wahr, wie sich der geschlossene Herzlotos anfühlt. Zum Beispiel eng, schmerzhaft, zusammengezogen, schwer wie ein Klumpen, dunkel etc.
Als nächstes mag es helfen, mit seinem eigenen Herzen in einen Dialog zu treten: Warum fühlst du dich so an? Was könnte dir jetzt helfen, damit du dich wieder mehr öffnen kannst?
Die Antworten auf diese Fragen fallen höchstwahrscheinlich je nach Person sehr individuell aus. Mir persönlich hilft es oft, meine Gedanken und Gefühle tagebuchartig niederzuschreiben. Auch Singen empfinde ich als sehr wohltuend und heilsam. Oder – falls eine spirituelle/religiöse Ader besteht – das Übergeben des Schmerzes an eine Kraft, die über das Menschliche hinausgeht. Nicht mein Wille, sondern DEIN Wille geschehe… Ich muss nicht alles verstehen, was in meinem Leben geschieht, sondern darf darauf vertrauen, dass es einen übergeordneten Plan/Sinn gibt, den ich vielleicht – wenn überhaupt – erst viel später einmal erfassen werde.

Seinem eigenen Herzen auf diese Art mit Mitgefühl zu begegnen und schwierigen Gefühlen Raum zu geben, kann auch helfen, Mitgefühl für andere Menschen in ähnlichen Lebenslagen zu empfinden. Und gerade über dieses Mitgefühl mit anderen Menschen können wir vielleicht auch ein Stück weit unseren eigenen Schmerz heilen. Wir sind nicht alleine mit unserem Schmerz. Viele, wenn nicht gar alle Menschen, kennen Herzensschmerzen, nur reden wir in unserer auf Happiness getrimmten Gesellschaft viel zu selten von schwierigen Gefühlen. Im Yoga geht es nicht darum, einfach nur glücklich zu werden. Es geht vielmehr darum, sich selbst mit all seinen Emotionen annehmen zu lernen.

Die Lotosblume wächst – wie schon erwähnt – aus schlammigem Grund und durch trübe Gewässer hindurch zur Wasseroberfläche, wo sie sich entfalten kann. Der schlammige Grund symbolisiert all das, was wir in unserem Leben als leidvoll empfinden. Dies kann sich auf vielfältige Weise äussern: In buddhistischen Worten gesprochen sind es Krankheit, Alter und Tod. Aber im Grunde ist das Leiden viel subtiler als diese drei grossen Worte. Es sind all die vielen Momente im Alltag, in denen wir mit dem aktuellen Moment nicht ganz zufrieden sind so wie er ist – in denen uns zu unserem «wahren Glück» noch etwas fehlt oder es etwas gibt, das noch anders sein sollte, damit es uns wahrhaft gutgehen könnte. Und haben wir endlich einmal einen wahrhaft glücklichen Moment erreicht, besteht das Leiden darin, dass auch dieser glückliche Moment unweigerlich wieder vergehen wird.

Offenbar sind wir – gemäss yogischer Vorstellung – so konzipiert, dass wir ein gewisses Mass an Leiden brauchen, um uns auf den Weg zu machen zu einem dauerhafteren Glück. In den Worten der Upanishaden könnte man sagen, dass das Leiden dazu da ist, damit wir uns auf den Weg machen zu unserem innersten Kern, zu unserer unsterblichen Seele.
Aber auch ganz und gar atheistische Menschen werden in ihrem Leben sicherlich immer wieder die Erfahrung machen, dass wir meist an schwierigen Situationen wachsen und die wichtigen Lebenslektionen oft gerade dann gelernt werden, wenn nicht alles glatt und reibungslos verläuft.

In solchen Situationen ist der Geist meist voll von ruhelosen Gedanken und man sieht vielleicht zeitweise nicht mehr, wie es jetzt noch weitergehen könnte.
Das trübe Wasser, in dem die Lotosblüte dem Licht entgegenwächst, kann als Symbol für unseren von so vielen Gedanken belagerten Geist betrachtet werden. Im Yoga kennen wir viele Methoden, um hier positiv einwirken zu können. Mithilfe von Körper-, Atem- und Meditationsübungen gelingt es uns, etwas Abstand zu gewinnen vom inneren Gedankenkarussell. Und manchmal mag uns der Durchbruch an der Wasseroberfläche gelingen und wir tauchen ein in die grosse Stille und Weite des geöffneten Lotos. Solche «Gipfelmomente» dauern vielleicht nur wenige Sekunden bis Minuten, aber sie haben dennoch eine transformierende Wirkung und können – je nach Intensität – noch Minuten, Tage oder gar jahrelang in uns nachschwingen.  

Die Lotosblume symbolisiert auch noch einen weiteren Gedanken, der mir an der yogischen Geisteswelt sehr gefällt. Es ist die Überzeugung, dass wir als Menschen im Grunde nicht fehlgehen können. Der Weg der Lotosblume ist nur in eine Richtung, nämlich aufwärts, dem Licht entgegen. Manche Blumen wachsen schneller als andere, doch alle wachsen in dieselbe Richtung und werden früher oder später an der Wasseroberfläche ankommen. Die Reise dorthin ist kein Wettrennen und wird von jedem/r im eigenen Tempo absolviert.

Über die Lotosblume könnte man noch seitenweise Abhandlungen schreiben. Neben dem Yoga spielt sie auch im Buddhismus und sogar im alten Ägypten eine wichtige Rolle. Doch für heute wollen wir es bald dabei bewenden lassen. Vielleicht noch dies: Wusstest du, dass die Samen der indischen Lotosblüte (Nelumbo nucifera) über tausend Jahre überleben können?
Und falls du dich schon gefragt hast, was die richtige Schreibweise ist – «Lotos» oder «Lotus» –  hier noch eine kleine Bemerkung dazu: Das Wort «Lotos» kommt aus dem Griechischen und wurde erst über das Latein zur Schreibeweise mit «u», die heute meist verwendet wird.

Nun wünsche ich dir weiterhin viel Freude auf deinem Weg an die Wasseroberfläche und wünsche dir, dass sich dein Herzenslotos immer weiter öffnen und entfalten kann.
Und wer weiss – vielleicht hast du ja wieder einmal Lust, mit deinen Händen Lotos Mudra zu formen. Wende dann deinen Aufmerksamkeit in den Raum zwischen deinen Händen und stelle dir deine ganz persönliche Lebensblume vor. Es muss auch gar kein Lotos sein. Vielleicht hast du ja eine andere Blume, die für dich eine symbolische Bedeutung hat. Welche Farben hat deine Blume? Wie sehen ihre Blütenblätter aus? Verströmt sie vielleicht einen sanften oder gar intensiven Duft?
Verbinde dich mit deiner Blume und lass sie dir eine Erinnerung sein an deine eigene innere Schönheit. Schliesse nach einer Weile deine Hände zur Grusshaltung vor dem Brustbein, nimm die Schönheit deiner Blume in deinen Herzraum auf und spüre wie es sich jetzt dort anfühlt…

 
Bild by Veronica Naranjo

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Gerda ImhofKommentieren