Die Augen der Berge
Während ich im Zug nach Deutschland sitze, um das erste Mal seit Corona-Ausbruch wieder einmal meine lieben Verwandten im nördlichen Nachbarland zu besuchen, möchte ich mir ein wenig Zeit nehmen, um auf die vergangenen drei eindrücklichen Outdoor-Tage im Tessin zurückzublicken.
Was wir letztes Jahr begonnen hatten, wollten mein guter Freund Samuel und ich dieses Jahr fortsetzen. Ausgelöst durch meine Faszination für kaltes Wasser war bereits mein letzter Sommer geprägt gewesen von Wanderungen zu kalten Bergseen, von denen es in der Schweiz wahrlich unzählige gibt.
Samuel hat eine mir beinahe unvorstellbare Fähigkeit, beim blossen Anblick einer Karte unglaublich gute Wanderideen auszudenken. Er kann beinahe stundenlang eine Karte studieren, so wie andere einen spannenden Krimi lesen. Zwar muss ich zugeben, dass eine gewisse Präferenz fürs Kartenstudium mittlerweile auch von mir Besitz ergriffen hat, doch Samuel schlägt mich darin nach wie vor um Längen.
Seine Wandervorschläge haben öfter einen etwas abenteuerlichen Charakter, aber in 95% der Fälle sind sie absolut top und führen einen zu Orten, an denen man auch zu Corona-Sommer-Zeiten kaum einer Menschenseele begegnet.
Dieses Mal hatten wir uns eine dreitägige Outdoor-Tour mit Tarp vorgenommen, wobei die Wetterprognose nicht gerade in unserem Sinn ausfiel, mit möglichen Gewittern an allen drei Wandertagen. Deshalb suchten wir eine Tour aus, bei der man notfalls auch in Hütten übernachten könnte.
Am ersten Tag machten wir uns früh am Morgen auf nach Bosco/Gurin, ein sehr abgelegenes Walser-Dorf am Ende eines schier endlos scheinenden Seitentales des Maggia-Tals (mit öV oder mit PW erreichbar). Da wir am ersten Tag doch bereits eine grössere Strecke zurückzulegen hatten, beschlossen wir für die ersten 400 Höhenmeter den Sessellift auf die Grossalp (1907m) zu nehmen.
Hier startete unsere Wanderung und nach einer kleinen Mittagsrast begann der Aufstieg auf den Pass «Bocchetta Formazzöö» (2668m). Besonders der zweite Teil dieses Aufstiegs hatte es in sich, als der Weg von rot-weiss zu blau-weiss wechselte. Weg ist in diesem Fall eigentlich zu viel gesagt – es war eher ein Kraxeln über grössere und kleinere Steinblöcke. Diese Art des Wanderns erfordert einen enormen Gleichgewichtssinn (Yoga sei Dank! 😊) und ist auch mental sehr herausfordernd. Jeder Schritt will geplant sein – ein Fehltritt und der Fuss ist verstaucht oder Schlimmeres. Die doch recht schweren Rucksäcke verändern zudem die Statik und machen es umso herausfordernder, das Gleichgewicht zu halten.
Während des Aufstiegs begegnete uns keine Menschenseele – erst oben auf dem Pass kam uns ein junges und sehr fit aussehendes Paar entgegen, die mit ähnlich grossen Rucksäcken schon seit mehreren Tagen unterwegs waren.
Auf der Bocchetta angelangt eröffnete sich uns der Blick bereits auf unsere ersten beiden Seelein, die Laghi di Formazzöö, der eine tiefblau, der andere etwas heller. Der Abstieg wurde durch einige Schneefelder etwas erleichtert, der Rest erfolgte wiederum im ähnlich kräftezehrenden «Weglos-Stil» wie der Aufstieg. Am oberen Seelein wäre eigentlich unser erstes Nachtlager geplant gewesen, doch die um uns herum immer bedrohlicher aufragenden Gewitterwolken liessen uns schnell wieder von dieser Idee abkommen, denn hier oben gab es keinerlei Schutz- oder Rückzugsmöglichkeiten. Schweren Herzens verzichtete ich auf ein Bad im See und begnügte mich lediglich damit, das Gesicht ein wenig mit Wasser zu erfrischen.
Unser nächster Plan war, eine kleine Hüttenansammlung namens Grandisc hoffentlich noch vor dem einsetzenden Gewitter zu erreichen und wir folgten dem nun wieder rot-weiss markierten Weg talwärts. Der Pfad war allerdings sehr schlecht markiert und mehrmals mussten wir eine ganze Weile suchen, bis wir das nächste Wegzeichen fanden. Handyempfang gab es hier bereits keinen mehr, doch dank gps und fanden wir uns gut zurecht. Der Abstieg ging dennoch ziemlich in die Beine, waren es doch fast 1000 Höhenmeter ab dem Pass. Vielleicht hatte es auch mit unserem frühen Start am Morgen oder mit dem nicht mehr ganz so gewohnten Tragen der schweren Rucksäcke zu tun – jedenfalls waren wir doch ziemlich müde als wir schliesslich gegen 18:00 Uhr Grandisc erreichten, eine Ansammlung von vier Rustici, von denen sich eines – wie ein Geschenk des Himmels – als Schutzhütte (Rifugio) entpuppte. Viel gab es dort drin zwar nicht – auf der unteren Etage ein Tisch und zwei Bänke, sowie ein Ofen, auf der oberen Etage ein einfacher Holzboden, wo man sich mit Matte und Schlafsack zum Übernachten hinlegen konnte.
Etwas vom Schönsten an diesen Outdoor-Abenteuern ist, dass einem plötzlich sogar eine Unterkunft wie diese, die an Einfachheit kaum mehr zu überbieten ist, wie reinster Luxus vorkommt. So schön das Tarpen auch sein kann, bei aufkommendem Gewitter ist man über so eine Schutzhütte doch mehr als froh.
Kaum waren wir angekommen, setzte auch schon der Regen ein und da es trotzdem noch warm war, genossen wir unser Abendessen unter dem Vordach der Hütte und schauten in den Regen hinaus und konnten sogar einen eindrücklichen Blitzeinschlag an der gegenüberliegenden Bergflanke beobachten.
Am nächsten Morgen weckte uns strahlender Sonnenschein und stahlblauer Himmel und wir machten uns auf den Weg zu unseren nächsten beiden Zwillingsseen, den Laghi della Crosa. Der wunderschöne Aufstieg führte zuerst durch Lerchenwälder und anschliessend oberhalb der Waldgrenze auf eine Krete, von wo aus sich der Blick auf den unteren der beiden Seen eröffnete (siehe Titelbild).
Dieser See ist zweifelsohne einer der schönsten Bergseen, den ich bisher in meinem Leben gesehen habe. Der Weg führte jedoch zuerst etwas erhöht zum westlichen Ende des zweiten Sees, wo wir unsere Rucksäcke ablegten, um die Gegend ein wenig zu erkunden. Bereits von oben hatten wir gesehen, dass es etwas oberhalb des ersten Sees eine kleine Hütte gab – diese wollten wir nun etwas genauer unter die Lupe nehmen. Je näher wir der Hütte kamen, desto grösser wurde unsere Begeisterung für dieses kleine Juwel. Eine bessere Lage könnte man sich kaum vorstellen. Wie in einem Märchen thront das Steinhaus über dem See. Die Hütte war momentan verlassen, jedoch war alles in perfektem Zustand und sehr liebevoll gepflegt. Wir nahmen uns vor, zuhause Nachforschungen anzustellen, ob man diese Hütte mieten könnte (Ja, man kann!! 😊).
Doch auch die wundervollste Hütte konnte mich jetzt nicht mehr von der Verlockung eines Bads in diesem einzigartigen See abhalten. Nach dem schweisstreibenden Aufstieg genau das Richtige!
Zweifelsohne hätten wir es hier noch viieeel länger ausgehalten, doch wir wussten, dass noch ein ziemliches Stück Weg vor uns lag und beschlossen, langsam aber sicher weiterzugehen. Der Aufstieg war noch nicht zu Ende und führte uns durch weitere, sehr dürftig markierte Geröllhalden auf die Bocchetta della Crosa (2465 m). Lustigerweise begegneten wir genau wie gestern auf der Passhöhe wieder den einzigen zwei Menschen, die wir an diesem Tag aus der Nähe sehen sollten, diesmal zwei stramme Burschen, die uns von Minestrone, Kaffee und Kuchen in der Cappana Pian di Crest vorschwärmten.
Glücklicherweise hatten wir auf der Passhöhe wiedermal ein wenig Empfang, so dass wir zumindest kurz den Wetterbericht für die kommende Nacht und den nächsten Morgen checken konnten. Ein kleinerer Regenguss war für 18:00 Uhr angekündigt, anschliessend eine trockene Nacht und ab ca. 7:30 Uhr wieder Regengüsse, die mehr oder weniger einen Grossteil des nächsten Tages anhalten sollen. Wir beschlossen zuerst mal ein wenig abzusteigen und uns nachher zu entscheiden, wie und vor allem wo wir die nächste Nacht verbringen wollten. Der Abstieg hatte es wiederum in sich und zumindest im oberen Teil sollte der Weg – wenn auch mit Ketten ausgestattet – meines Erachtens definitiv blauweiss (T4, T5) und nicht rot-weiss markiert sein.
Unten im Tal angekommen debattierten wir, ob wir in der (bewarteten) Capanna Pian di Crest übernachten sollten oder ob wir trotz angesagtem Regen nun doch zumindest eine Nacht unter freiem Himmel verbringen wollten. Nach einigem Hin- und Her beschlossen wir, der Minestrone und dem Kuchen in der Hütte zu widerstehen und suchten uns ein schönes Outdoor-Plätzli am Seeufer des Laghetti d’Antabia (2188 m). Aufgrund des angesagten Regens aus Westen gaben wir alles beim Tarp-Aufbau – ein so stabiles und wetterfestes hatte ich wohl während der gesamten Outdoor-Guide Ausbildung nie aufgestellt.
Nach einem weiteren erfrischenden Bad im See kochten wir uns ein feines Znacht und genossen die Abendsonne und beobachten die vielen springenden Fische im See. Der Regenguss um 18:00 Uhr blieb aus und wir beschlossen ausserhalb des Tarps zu übernachten, um den Sternenhimmel besser sehen zu können. > Route Tag 2
Mitten in der Nacht sah ich es rings um uns blitzen und beschloss in weiser Voraussicht ins Tarp umzuziehen. Dies wäre allerdings nicht nötig gewesen. Das Blitzen entpuppte sich als reines Wetterleuchten und auch am Morgen war nach wie vor alles trocken. So konnten wir in Ruhe frühstücken, unsere Sachen packen und uns bereits gegen 7:30 Uhr auf den Weg machen. Für heute stand nur noch der Abstieg ins Tal auf dem Programm, der zuerst an der Cappana Pian di Crest (2107 m) vorbeiführte. Das Hüttenwart-Team staunte nicht schlecht, dass wir schon so früh unterwegs waren und sie waren froh von uns den mehr oder weniger aktuellen Wetterbericht zu erfahren, da es auch in der Hütte keinen Handyempfang gibt. Das offerierte Kaffee liessen wir aus, da wir den Abstieg möglichst im Trockenen zurücklegen wollten. Dieser führte zuerst durch Wiesen, dann durch Lerchenwälder, über rauschende Bäche und schliesslich durch schöne Buchenwälder, die ein praktisches Dach vor dem nun doch einsetzenden Regen boten. Schliesslich kamen wir gegen 10:00 Uhr in San Carlo (957 m) an – der steile Abstieg von mehr als 1000 m war doch etwas in die Beine gegangen und wir beschlossen, den Tag im Tessin noch etwas zu geniessen mit Kaffee trinken in San Carlo und Mittagessen in Cevio (unter anderem wegen den spärlichen öV-Verbindungen). > Route Tag 3
Nun fahre ich durch den Schwarzwald und denke zurück an diese drei eindrücklichen Tage in einer anderen, wilden und beinahe unberührten Welt. Während den vielen Stunden schweigenden Wanderns hat man Zeit, in sich hineinzuhören und sich wieder auf das Wesentliche im Leben auszurichten. Gefühle wie Dankbarkeit, Staunen und Demut machen sich breit und sind neben den schönen Fotos das beste Mitbringsel, das man nach Hause mitbringen und für sich hüten kann. 🙏
Exkurs Barfuss-Schuhe
Für alle Fans und Interessierte von Barfuss-Schuhen, hier noch ein kleiner Bericht zu meinen neuen Vivo-Barefoot Wanderschuhen.
Dies war meine erste Tour mit diesen Schuhen und ich war gespannt, wie sich die Schuhe bewähren würden. In weiser Voraussicht “montierte” ich bereits zu Beginn der Wanderung Compede-Pflaster an den Fersen, da ich fast bei allen neuen Schuhen Blasen an den Fersen bekomme.
Trotz Compede scheuerte es beim Aufstieg auf den ersten Pass beträchtlich an den Fersen, doch es war aushaltbar. Beim Abstieg realisierte ich, dass es gar nicht so einfach ist, diese Schuhe genug fest zu schnüren, damit die Zehen nicht zu fest herumrutschen und vorne oder an den Seiten anstossen. Am zweiten und dritten Tag gelang mir dies besser.
Die Schuhe waren insgesamt sehr warm, was wohl auch an der mitgelieferten Thermo-Sohle lag. Vermutlich würde es Sinn machen, diese Sohle im Sommer durch eine weniger warme Sohle auszutauschen. Die Schuhe waren absolut wasserdicht, worüber ich sehr erfreut war, da ich in der Vergangenheit mit anderen Barfussschuhen schon oft die gegenteilige Erfahrung gemacht hatte.
Insgesamt denke ich, dass sich die Schuhe sehr gut für rot-weiss markierte Wanderwege bis T3 eignen. Für die blauweissen Partien hätte ich mir teilweise mehr Halt und auch mehr Schutz gewünscht. Ich denke, dass Barfussschuhe in diesem Bereich vermutlich generell an ihre Grenzen stossen oder dass die Entwicklung von Barfusschuhen noch nicht so weit fortgeschritten ist, dass sie sich auch für blau-weisse Routen eignen.
Das Profil der Sohle ist auch definitiv nicht für grössere Bergtouren geeignet. Zwar war der Gripp auf den Geröll-Partien sehr gut, aber ich gehe davon aus, dass es sehr schnell abgelaufen sein wird und auch die Nähte der Schuhe den Belastungen blau-weiss markierter Routen nicht sehr lange standhalten würden.
Spannend wäre die Kombination dieser Barfussschuhe von Vivobarefoot mit der Kombination einer Vibram-Sohle. Wer weiss, vielleicht gibt es diese Kooperation ja eines Tages. Oder Vibram bringt selber ein ähnliches Modell heraus. Falls jemand weitere Tipps in diesem Bereich kennt, wäre ich für Infos sehr dankbar! 😊