Die Schneekönigin – ein yogisches Winter-Märchen über die Kraft der Liebe
Heute teile ich mit euch ein Lieblings-Märchen aus meiner Kindheit, das ich heute Morgen wohl seit über 20 Jahren endlich wieder einmal gelesen habe, nachdem ich es von meiner lieben Mutter als Geburtstagsgeschenk erhalten hatte. Diejenigen, die mit den Texten der Yogaphilosophie vertraut sind, werden darin insbesondere im Prolog einige Parallelen zu Gedanken der Yogaphilosophie entdecken – Stichwort: maya, avidya, …
Für alle anderen ist es auch ohne Kenntnisse der Yogaphilosophie ein wunderschönes Winter-Märchen über die Kraft der Liebe. 🙏 💜
Prolog
Eines Tages war der Teufel recht bei Laune, denn er hatte einen Spiegel gemacht, welcher die Eigenschaft besass, dass alles Gute und Schöne, was sich darin spiegelte, fast zu nichts zusammenschwand, aber das, was nichts taugte und sich schlecht ausnahm, hervortrat und noch ärger wurde.
Alle, welche die Koboldschule besuchten – denn der Teufel hielt Koboldschule –, liefen mit dem Spiegel herum, und zuletzt gab es kein Land oder keinen Menschen mehr, welcher nicht verdreht darin gewesen wäre. Der Teufel hatte seine Freude daran und lachte, dass ihm der Bauch wackelte.
Nun wollten sie auch zum Himmel selbst auffliegen, um sich über die Engel und den lieben Gott lustig zu machen. Je höher sie mit dem Spiegel flogen, um so mehr grinste er, sie konnten ihn kaum festhalte, da erzitterte der Spiegel so fürchterlich in seinem Grinsen, dass er ihren Händen entfiel und zur Erde stürzte, wo er in hundert Millionen, Billionen und noch mehr Stücke zersprang. Und nun gerade verursachte er weit grösseres Unglück als zuvor; denn all diese winzigen Stückchen, kaum so gross wie ein Sandkorn, flogen ringsumher in der weiten Welt, und wo jemand sie ins Auge bekam, sahen die Menschen alles verkehrt; denn jede kleine Spiegelscherbe hatte dieselben Kräfte behalten, welche der ganze Spiegel besass. Einige Menschen bekamen sogar eine Spiegelscherbe ins Herz, und dann war es ganz arg: das Herz wurde einem Klumpen Eis gleich.
Davon werden wir nun hören!
Es lebten einmal in einer alten Stadt zwei arme Kinder. Sie waren nicht Geschwister, aber sie hatten sich so lieb wie Geschwister. Der Junge hiess Kay, und das Mädchen hiess Gerda. Sie wohnten einender gegenüber in zwei Dachkammern. Im Sommer konnten sie über die Dächer zueinander steigen und zusammen spielen. Um die Fenster blühten Rosen und oft sangen die zwei das Liedchen: «Rosen, sie blühen und verwehen, wir werden das Christkindlein sehen.» Im Winter, wenn die Fenster zugefroren waren, spielten die Kinder draussen im Schnee.
Einmal, als sie im Schnee herumtobten, sagte Kay: «Au! Es stach mir in das Herz, und mir folg etwas in das Auge!» Gerda schaute ihm ins Auge, aber es war nichts zu sehen. «Ich glaube, es ist weg!» sagte Kay. Aber weg war es nicht. Der arme Kay hatte ein Körnchen von dem Spiegel gerade in das Herz hinein bekommen. «Weshalb weinst du?» fragte er brasch, «so siehst du hässlich aus!» Und dann rannte er einfach davon.
Erschrocken schaute ihm Gerda nach. Kay rannte die Strasse hinunter. Dort kam plötzlich ein grosser weisser Schlitten auf ihn zugefahren. Darin sass jemand in einem blauen Peltz gehüllt. Weisse Pferde zogen den Schlitten. Da band Kay flink seinen kleinen Schlitten fest und fuhr mit.
Schon fuhren sie zum Stadttor hinaus. Der Schnee fiel jetzt in grossen, dichten Flocken. Kay wollte endlich die Schnur losbinden. Aber es half nichts! Sein kleiner Schlitten hing fest, und es ging in Windeseile weiter. Die Schneeflocken wurden immer grösser und grösser.
Plötzlich hielt der weisse Schlitten an. Die Gestalt erhob sich: Sie war über und über mit Schnee bedeckt. Kay wusste nun: Es war die Schneekönigin!
«Du frierst!» sagte die Schneekönigin zu Kay, schlug ihren Pelz um ihn und hob ihn in ihren Schlitten. Dann küsste sie ihn auf die Stirne. Der Kuss war kälter als Eis, er drang bis ins Herz. Zuerst war es Kay, als sollte er sterben, dann aber fühlte er sich auf einmal wohl. Er vergass Gerda und seine Eltern und spürte nichts mehr von der Kälte.
Bald flogen sie hoch hinauf, den schwarzen Wolken zu. Sie flogen über Wälder und Seen, über Länder und Meere. Unter ihnen brauste der kalte Wind. Die Wölfe heulten, und überall glitzerte der weisse Schnee.
Als Kay an diesem und auch am nächsten Abend nicht nach Hause kam, war Gerda verzweifelt. Sie suchte ihn in allen Strassen der Stadt. Aber niemand hatte Kay gesehen. Gerda weinte bittere Tränen. Es wurde ein langer, banger Winter für sie.
Doch als der Frühling kam, zog Gerda ihre neuen roten Schuhe an; sie wollte zum Fluss hinaus, um ihn nach Kay zu fragen.
«Hast du mir meinen kleinen Freund genommen?» fragte sie den Fluss. «Ich will dir meine neuen roten Schuhe schenken, das Liebste was ich habe, wenn du ihn mir wieder gibst», sagte sie, stieg in ein Boot, das am Ufer lag, und warf die Schuhe in den Fluss hinaus.
Der Fluss antwortete nicht. Das Boot jedoch war nicht festgebunden und glitt langsam vom Ufer ab. Gerda merkte es und wollte hinausspringen. Aber es war zu spät. Schnell und schneller trieb das Boot mit dem Strom. Da erschrak die kleine Gerda und weinte.
«Vielleicht trägt mich der Fluss zu Kay», dachte sie nach einer Weile und hörte auf zu weinen. Das Boot trieb nun auf das Ufer zu, und Gerda sah ein strohgedecktes Haus mitten in einem Kirschgarten stehen. Gerda rief laut gegen das Haus hin, und sofort trat eine alte Frau heraus. Mit ihrem Stock zog sie das Boot ganz ans Ufer und lächelte Gerda freundlich an.
«Du armes Kind, wie bist du nur auf den grossen Fluss hinausgetrieben worden?» fragte die alte Frau. Sie half ihr aus dem Boot, und Gerda erzählte ihr von ihrem Kummer. Da meinte die alte Frau, Kay sei bis jetzt noch nicht hier vorbeigekommen, aber das könne ja jeden Tag geschehen. Sie nahm Gerda bei der Hand, führte sie in das kleine Haus und gab ihr köstliche Kirschen zu essen.
Während Gerda ass, kämmte die alte Frau ihr das Haar mit einem goldenen Kamm, und da vergass das Mädchen allmählich den verlorenen Spielgefährten.
Die alte Frau war eine Zauberin, aber keine böse Zauberin. Sie zauberte nur ein wenig zu ihrem Vergnügen. Sie wollte die kleine Gerda gerne bei sich behalten, weil sie selbst einsam war. Deshalb ging sie rasch in den Garten hinaus und berührte mit dem Zauberstock die schönen Rosen: Sie versanken alle in die Erde. Gerda sollte nicht an die Rosen zu Hause erinnert werden, denn die Rosen würden sie auch wieder an den kleinen Kay erinnern, und dann würde sie davonlaufen.
Die alte Frau führte nun Gerda in den Blumengarten. Was war da für ein Duft und eine Herrlichkeit! Alle nur denkbaren Blumen blühten in allen Farben!
Gerda spielte viele Tage im Blumengarten. Sie kannte jede Blume; aber so viele es auch waren, Gerda fühlte, dass eine Blume fehlte; doch welche, das wusste sie nicht.
Da entdeckte sie eines Tages auf dem grossen Sonnenhut der alten Frau eine Rose! Diese wegzuzaubern, hatte die Alte vergessen.
Gerda rannte hinaus in den Gerten. «Kay! Kay! Ich wollte doch meinen Kay suchen!» rief sie verzweifelt und begann zu weinen. Ihre Tränen fielen auf die Erde, und die fortgezauberten Rosen wuchsen wieder empor.
«Rosen, wisst ihr nicht, wo mein Kay ist? Glaubt ihr, er sei tot?» fragte Gerda die blühenden Rosen.
«Wir sind in der Erde gewesen, aber dein Kay ist nicht dort. Er ist nicht tot», antworteten die Rosen.
Wie froh war Gerda! Sie rannte, ohne sich noch einmal umzudrehen, mit nackten Füssen aus dem blühenden Garten der alten Zauberin in die weite Welt hinaus, um Kay zu suchen. Mit dem Garten der freundlichen Zauberin hatte Gerda auch den Sommer verlassen. Im Wald, in den sie kam, war es schon Spätherbst; golden leuchtete das Laub.
«Ach, wie habe ich mich verspätet!» seufzte die kleine Gerda und lief und lief, bis ihre kleinen Füsse müde und wund waren. Da musste sie ausruhen. Plötzlich kam eine Krähe dahergehüpft. «Kra, kra, kra!» rief sie und flog ein Stück voraus. Gerda glaubte, der Vogel wolle sie zu Kay führen, und sie folgte ihm.
Sie kamen in eine Allee, wo ein Blatt nach dem anderen von den Bäumen herabfiel. Am Ende der Allee stand ein Schloss. Die Krähe rief noch einmal «Kra, kra, kra …» und verschwand im Schloss. Gerda folgte ihr mit klopfendem Herzen.
Sie schritt durch viele Säle, einer war prächtiger als der andere. Nun war sie im Schlafgemach. Mitten im Raum hingen von einem dicken Stengel zwei goldene Betten. In einem lag die Prinzessin und in dem anderen ein Prinz. – Nicht der kleine Kay!
Das machte Gerda traurig. Die Prinzessin war jedoch sehr liebevoll und bat Gerda zu erzählen, warum sie hergekommen sei und wohin sie gehe.
«Wir wollen dir helfen, so gut wir können», trösteten der Prinz und die Prinzessin. Sie kleideten Gerda in Samt und Seide. Für die Reise bekam sie warme Pelzstiefel und einen Muff.
Vor der Türe stand eine Kutsche aus purem Gold, und ein schmucker Kutscher sass vorn auf dem Bock. Die Prinzessin half Gerda in die Kutsche und wünschten ihr viel Glück. Die Krähe flog noch ein Stück des Weges mit. Dann war Gerda wieder allein auf der Suche nach Kay.
Sie fuhren durch einen dunklen Wald, und das Gold der Kutsche leuchtete wie eine Fackel. Das sahen die Räuber, und sie kamen von allen Seiten angerannt. «Das ist Gold! Pures Gold!» riefen sie, griffen den Pferden in die Zügel, nahmen den Kutscher gefangen und zogen die kleine Gerda aus dem Wagen. Plötzlich sprang ein Räubermädchen hinzu. «Snipp-snapp-surre-purre-basselurre, ich will mit dem Mädchen spielen!» schrie sie wild. «Sie soll mir den Muff und ihre Kleider geben und mit mir in meinem Bett schlafen. Snipp-snapp-surre-purre-basselurre, ich will in die Kutsche!» Das Räubermädchen stiess Gerda in die Kutsche hinein, riss ihr den Muff aus den Händen, die Mütze vom Kopf und befahl ihr die Stiefel auszuziehen. Dann fuhren sie auf wilden Wegen tiefer in den Wald hinein. «Du bist sicher eine Prinzessin?» fragte das Räubermädchen neugierig. «Nein», erwiederte Gerda und erzählte alles, was sie erlebt hatte und wie sehr sie Kay liebe. «Snipp-snapp-surre-purre-basselurre», brummte das Räubermädchen und wurde nachdenklich.
Die Kutsche hielt mitten im Hof eines alten, halbzerfallenen Räuberschlosses, Raben und Krähen flogen aus den Mauerlöchern.
«Du sollst heute nacht bei mir schlafen», entschied das Räubermädchen, zog ein langes Messer aus einer Mauerspalte und lachte.
«Wozu brauchst du das Messer?» fragte Gerda furchtsam.
«Ich schlafe immer mit dem Messer!» antwortete das kleine Räubermädchen. «Man weiss nie, was geschehen kann! Aber erzähle mir nun wieder von Kay!» Und Gerda erzählte nochmals von vorne. Das kleine Räubermädchen legte ihren Arm um Gerdas Hals, hielt das Messer in der anderen Hand und schlief ein.
Aber Gerda konnte nicht schlafen. Da begannen auf einmal die Tauben zu gurren: «Gurre, gurre, gurre, wir haben den kleinen Kay gesehen! Er sass im Schlitten der Schneekönigin, dicht über den Bäumen fuhren sie dahin. Gurre, gurre, frag das Rentier, das kennt das Reich der Schneekönigin!»
«Ja, hoch oben im Norden ist meine Heimat!» seufzte das Rentier wehmütig. «Dort in den weiten Tälern springt man frei umher. Und noch weiter gen Norden hat die Schneekönigin ihr Sommerschloss!» «Was! Ihr habt Kay gesehen? Kay ist bei der Schneekönigin? Dann lebt er also noch! Kay, mein Kay, ich werde dich suchen, dort oben im Norden!» flüsterte Gerda und schlief mit dieser neuen Hoffnung im Herzen endlich ein.
Früh am Morgen erzählte Gerda dem Räubermädchen alles, was die Tauben gesagt hatten. Da überlegte das Räubermädchen nicht lange und beschloss, snurre-purre, Gerda mit dem Rentier fortziehen zu lassen.
«Da hast du deine Pelzstiefel und deine Mütze», sagte das Räubermädchen zu Gerda, «denn es wird kalt; aber den Muff behalte ich, der ist zu hübsch! Snipp-snapp-surre-purre-basselurre! Du sollst aber trotzdem nicht frieren. Hier hast du die grossen Fausthandschuhe meiner Mutter, die reichen dir gerade bis zu den Ellenbogen. Und hier hast du zwei Brote und einen Schinken, so wirst du nicht hungern.»
Nun löste das Räubermädchen die Kette und führte das Rentier vors Schloss. Sie hob Gerda auf den Rücken des Tieres und sagte: «Snipp-snapp, lauf nun! Aber gibt auf das kleine Mädchen acht!» Und schon lief das Rentier mit Gerda in den Wald hinein. Gerda winkte mit den grossen Fausthandschuhen und hörte noch des Räubermädchens Abschiedsgruss «Snipp-snapp-surre-purre-basselurre!» Dann jagte sie über Stock und Stein davon, über Sümpfe und Steppen und durch den grossen Wald, so schnell das Rentier konnte. Die Wölfe heulten, und die Raben krächzten.
Das Rentier lief mit Gerda Tag und Nacht. Die Brote wurden verzehrt, der Schinken auch. Endlich waren sie in Finnland. Das Rentier führte Gerda zu einem Finnenweib, das alle Geheimnisse des Hohen Nordens kannte. Sie traten in die niedrige Hütte. Drinnen war es so heiss, dass Gerda ihre Pelzstiefel, die Mütze und die dicken Fausthandschuhe rasch ausziehen musste. Die Frau legte dem Rentier ein Stück Eis auf den Kopf, und dann erzählte das Rentier Gerdas Geschichte.
«Ich weiss, du bist sehr klug», sagte das Rentier, «kannst du dem kleinen Mädchen nicht einen Trank geben, dass es Kraft erhält und die Schneekönigin überwindet?»
Die Finnin zog das Rentier in einen Winkel und flüsterte ihm zu «Kay lebt sehr glücklich bei der Schneekönigin. Er hat seine Eltern und die kleine Gerda ganz vergessen, so sehr steht er unter dem Zauber der Schneekönigin.»
«Aber kannst du Gerda nicht ein Mittel geben, das ihr Macht über den Zauber der Schneekönigin verleiht?» fragte das Rentier.
«Ich kann ihr keine grössere Macht geben, als sie schon besitzt», antwortete die Finnin. «Siehst du nicht, wie gross ihre Kraft ist? Sogar das wilde Räubermädchen erfüllt ihre Wünsche. Die Macht sitzt in ihrem liebenden Herzen! Doch höre, zwei Meilen von hier beginnt das Reich der Schneekönigin. Bringe das kleine Mädchen zu dem grossen Busch mit den roten Beeren. Aber beeile dich, hierher zurückzukommen, bevor es für dich zu kalt wird!» So sprach das Finnenweib. Dann setzte sie Gerda auf das Rentier, und wieder lief dieses, was es konnte.
«Oh, ich habe meine Stiefel nicht! Ich habe meine Fausthandschuhe und meine Mütze nicht!» rief die kleine Gerda. Die Kälte stach sie wie mit Messern. Aber das Rentier wagte nicht umzukehren. Es lief weiter und immer weiter.
Bei dem Busch mit den roten Beeren setzte das Rentier die kleine Gerda ab. Es küsste sie auf den Mund, und grosse blanke Tränen liefen dem guten Tier über die Wangen. Dann rannte es so schnell, wie es konnte, wieder zum Finnenweib zurück, denn es fürchtete das eisige Reich der Schneekönigin.
Da stand die arme Gerda, ohne Schuhe, mitten in der fürchterlichen, eiskalten Finnmark. Die Kälte war so gross, dass Gerda ihren eigenen Atem sehen konnte.
In ihrer Verzweiflung betete die kleine Gerda. Und als sie das Vaterunser beendet hatte, waren viele Engel um sie. Sie verjagten den Schnee und die Kälte, und Gerda ging nun frohen Mutes vorwärts, geradeaus ins Schneegestöber hinein. Denn dort, wo es am dichtesten schneite, musste das Schloss der Schneekönigin sein.
Kalt und glänzend war die Pracht im Schloss der Schneekönigin. Die Wände des Schlosses hatte der dahintreibende Schnee, die Fenster und Türen hatten die schneidenden Winde gebildet.
Vom Nordlicht beleuchtete, lagen die Säle eiskalt und leer. Kay kniete ganz allein in einem der leeren Eissäle und spielte mit blanken, harten Eisstückchen.
Da betrat Gerda das Schloss. Sie sah Kay, sie erkannte ihn, sie flog ihm um den Hals, hielt ihn fest und rief: «Kay, lieber Kay, so hab ich dich endlich gefunden!»
Aber Kay sass still, steif und kalt, man hätte glauben können, er sei gefroren. Da weinte die kleine Gerda heisse Tränen, die fielen auf Kays Brust und drangen in sein Herz hinein. Sie tauten den Eisklumpen auf und verzehrten das kleine Spiegelstück darin. Er sah sie an, und Gerda begann leise zu singen: «Rosen, sie blühen und verwehen, wir werden das Christkindlein sehen.»
Da brach Kay in Tränen aus, er weite so sehr, dass das Spiegelkörnchen aus seinem Auge schwamm. Nun erkannte er Gerda und jubelte: «Gerda, liebe kleine Gerda, wo bist du so lange gewesen? Und wo bin ich gewesen?» Und er blickte rings um sich her. «Wie ist es hier weit und leer. Wie kalt ist es hier! Mich friert – «, und er klammerte sich an Gerda, und sie lachten und weinten vor Freude.
Und Gerda küsste Kays Wangen, da wurden sie blühend; sie küsste seine Augen, da leuchteten sie wie die ihren. Sie küsste seine Hände und Füsse, und ihm wurde warm.
Sie fassten einander bei den Händen und wanderten aus dem Schloss hinaus; sie sprachen von den Rosen zu Hause, und wo immer sie gingen, verstummten die eisigen Winde, und die Sonne brach hervor.
Bei dem Busch mit den roten Beeren wartete das Rentier mit einem Schlitten und mit Kleidern, die ihm die Finnin mitgegeben hatte. Es führte die beiden noch bis zur Grenze des kalten Landes. Dort spross schon das erste Grün, und dort nahmen sie Abschied.
«Lebt wohl!» rief das Rentier, und die ersten kleinen Vögel begannen zu zwitschern, und der Wald hatte hellgrüne Knospen. Es war Frühling!
Gerda und Kay gingen Hand in Hand den weiten Weg zurück. Sie trafen das Räubermädchen. «Du bist ein schöner Vagabund! Snipp-snapp – «, sagte es zu Kay. «Ich möchte wissen, ob du es verdienst, dass man deinetwegen bis ans Ende der Welt läuft! Aber erzähle mir jetzt, Gerda, wie es dir ergangen ist und wie du Kay gefunden hast!» Und Gerda und Kay erzählten.
«Snipp-snapp-surre-purre-basselurre», lachte das Räubermädchen und nahm Gerda und Kay bei den Händen und versprach, dass es, wenn es je einmal durch ihre Stadt kommen sollte, zu ihnen hinaufkomen und sie bsuchen wolle. Und dann verschwand das Räubermädchen in den Wald.
Gerda und Kay kamen zum Schloss des Prinzen und der Prinzessin und wurden festlich begrüsst und bewirtet. Und wohin sie auch gingen, überall brach der Frühling hervor. Und aus der Ferne hörten sie Kirchenglocken läuten, und sie erkannten die hohen Türme der Stadt, in der sie wohnten.
Sie kamen in die Stadt zu ihrem Haus. Sie stiegen die Treppe hinauf und traten in die Stube, wo alles wie früher an derselben Stelle stand. Aber indem sie durch die Türe gingen, bemerkten sie, dass sie erwachsene Menschen geworden waren.
Die Rosen blühten zum offenen Fenster herein. Kay und Gerda hielten sich bei den Händen. Die kalte Herrlichkeit bei der Schneekönigein hatten sie gleich einem schweren Traum vergessen. Sie sahen einander in die Augen, und sie verstanden auf einmal das alte Lied: «Rosen, sie blühen und vergehen, wir werden das Christkindlein sehen.»
Glücklich standen sie zusammen, erwachsen und doch Kinder, Kinder im Herzen, und es war Sommer, warmer, wohltuender Sommer.
Das Märchen von Hans Christian Andersen mit den wunderschönen Illustrationen von Bernadette ist im Nord-Süd Verlag erschienen.