Into the wild – sechs Tage auf und neben der Via Alta Maggia

 
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Auch diesen Sommer darf trotz wechselhafter Wetterbedingungen ein kleines Bergabenteuer mit Samuel nicht fehlen. Die gemeinsamen Bergerlebnisse haben bei uns mittlerweile Tradition und eröffnen mir Jahr für Jahr neue äussere und innere Landschaften.

Dieses Jahr hat Samuel die Via Alta Maggia vorgeschlagen – ein recht anspruchsvoller Höhenweg hoch über dem Maggia-Tal, auf dem man/frau sich zumeist auf alpinen, also blau-weissen «Wegen» bewegt (Wanderskala T4-T5).

TAG 1: Montag, 2. August: Luzern – Cimetta – Alpe Nimi

Samuel und ich treffen uns um kurz nach 07:00 Uhr am Bahnhof Luzern. Dort steht schon unser Zug nach Locarno bereit. Ein nigelnagelneuer Interregio. Wir steigen frohgemut ein, voller Vorfreude auf die gemeinsamen Wandertage.

Kurz nach Altdorf überrascht es uns, dass der Zug nicht wie erwartet durch den Neat, sondern auf der alten Strecke über den Gotthard fährt. Oh Schreck – wir hätten in Arth Goldau umsteigen sollen! Nun werden wir über eine Stunde später in Locarno ankommen. In Anbetracht der doch recht langen ersten Tagesetappe nicht gerade die besten Startbedingungen… Wir versuchen im Zug wenigstens noch etwas verpassten Schlaf nachzuholen – mit mehr oder weniger grossem Erfolg…

Erst einmal in Locarno angekommen, geht es dann aber ruckzuck nach oben – zuerst mit der Fornicolare, dann mit der Seilbahn und schliesslich noch mit dem Sessellift bis zur Cimetta, einem Aussichtsgipfel hoch über Locarno.
Oben angekommen begrüsst uns strahlender Sonnenschein. Meine Füsse fühlen sich in den schweren Bergschuhen bereits jetzt ungewohnt eingeengt und ich wechsle kurzerhand auf Barfussschuhe (Five Finger Shoes). Obwohl ich mittlerweile fast nur noch in Barfussschuhen unterwegs bin, war ich doch noch nie mit einem Mehrtagesrucksack im alpinen Gelände in ihnen unterwegs. Mit Hilfe der Wanderstöcke geht es jedoch unerwartet gut – besonders bergauf und geradeaus. Bergab ist es hingegen doch etwas mühsamer und verlangsamt das Tempo.

 
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Der Weg ist auf dieser Etappe grösstenteils noch rot-weiss markiert und beinhaltet keine besonderen Herausforderungen, abgesehen von ein wenig Kondition natürlich. Diese lässt bei uns beiden am ersten Wandertag doch noch ziemlich zu wünschen übrig. Mein Rucksack hat einen ständigen und hartnäckigen Drall nach links, was zunehmend nervig wird und ich finde erst gegen Schluss der Etappe heraus, wie ich das Problem beheben kann.

Aufgrund des fortgeschrittenen Tages beschliessen wir, für den Schlusssteil der Route auf dem rot-weissen Weg zu bleiben und nicht wie zuerst geplant blau-weiss über den Grat weiterzuwandern. Dafür werden wir belohnt mit guten Gesprächen, wunderschöner Aussicht auf den Lago Maggiore und verschiedenen schönen Bächen, die lustig ins Tal plätschern.

Auf der Alpe Nimi werden wir von rund 60 Geissen und einem jungen, top-motivierten Älplerteam mit einem Apéro Riche der Extra-Klasse begrüsst. Allerlei Ziegenkäse verschiedenster Härte- und Reifungsgrade, selbstgebackenes Brot etc. Wir lassen uns verwöhnen – wohl wissend, dass wir in allen anderen Hütten selber werden kochen müssen.

Nach dieser kleinen Stärkung beschäftigt uns die nasse Wetterlage der nächsten Tage und es zeichnet sich ab, dass wir am nächsten Tag in der Capanna Starlaresc übernachten, anschliessend aber eine Art Pausentag mit Mini-Etappe zur Capanna Masnee einlegen werden, um nicht stundenlang im Regen gehen zu müssen, was in diese Gebirgsgelände auch nicht ganz ungefährlich wäre.

Erst etwa gegen 20:00 Uhr, nachdem alle Geissen gemolken sind, erfolgt das Outdoor-Znacht mit Salat, Pasta mit Salbeibutter und Ziegenmilch-Panna Cotta (Geschmacksache!). Nach dem Znacht gehen wir bald ins Bett im SAC-artigen Massenlager. Wie ich später erfahren soll, hätte es für Schnarchempfindliche auch Zweierzimmer gegeben…

 
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TAG 2: Dienstag, 3. August: Capanna Nimi – Capanna Starlaresc

An unserem zweiten Wandertag wachen wir früh auf und marschieren – noch voll vom üppigen Mahl des Vorabends – direkt ohne zu frühstücken los. So läuft es sich wunderbar leicht und wir erreichen schon bald den Grat und der Weg wird mehr und mehr zur Kraxelei. Nun bin ich dankbar für die Bergschuhe!
Das Auf- und Ab über die Felsblöcke macht mir mit dem doch etwas schwereren Rucksack nur mässig Spass und auch das Verhältnis mit den Stöcken wechselt in diesem Terrain beständig zwischen Freund und Feind. Die Kraxelei hält allerdings nicht allzu lange an, aber kaum ist sie beendet, setzt ziemlich garstiger Regen ein. So machen wir uns bald wieder auf den Weg ins Tal zum Lago del Starlaresc da Sgiof und der Starlaresc-Hütte. Die Capanna Starlaresc ist nicht Teil der Via Alta, aber wir entschieden uns für eine Übernachtung in dieser Hütte, da ihre Lage als eine der schönsten im ganzen Tessin gilt und auch da die Capanna Masnee, die «offizielle» Via Alta Hütte für die zweite Etappe, an diesem Tag bereits ausgebucht ist.

In der Hütte angekommen sind wir wie erwartet die Einzigen und es dauert nicht lange, bis wir uns ziemlich breitgemacht haben und uns zunehmend heimisch fühlen.

Das Wetter bessert sich schon bald wieder ein wenig und wir machen uns auf zu einer Seeumrundung, auf der wir an wunderschönen Zeltplätzen vorbeikommen. Nach einem kleinen Mittagspicknick üben wir uns im Feuermachen (ohne Anzündwürfel) und Holzhacken. Beides gar nicht so einfach – zumindest für mich – und ich ärgere mich ein wenig darüber, dass ich als Outdoor Guide diese Basics noch nicht besser beherrsche. Doch wir haben ja Zeit und Übung macht bekanntlich die Meisterin!

Nach diesen Anstrengungen lädt der See trotz Regenwetter zum Bade und ist wunderbar erfrischend. Mr. Pingu – das Winterschwimmer-Maskottchen und Thermometer musste zwar aus Gewichtsgründen zuhause bleiben, aber mittlerweile bin ich auch ohne Pingu recht geübt darin, die Wassertemperatur zu schätzen und vermute sie hier zwischen 12 und 14 Grad.

So vergeht der Nachmittag im Fluge und bald ist es Zeit zum Abendessen. Wir entscheiden uns heute für Linsenrisotto und kochen extra etwas mehr, so dass wir für den nächsten Tag auch noch ein Zmittag haben.
Kaum aufgegessen sehen wir durchs Fenster doch tatsächlich noch zwei junge Burschen auf die Hütte zukommen. Leicht gehetzt beginnen wir schnell unser Chaos ein wenig aufzuräumen, doch sie wollen und wollen nicht zur Tür hereinkommen. Schliesslich kommen sie dann doch noch, allerdings nur um uns mitzuteilen, dass sie draussen zelten werden. Das Wetter ist auch tatsächlich wieder ein wenig besser geworden und gewährt schöne Ausblicke ins Tal. So neigt sich unser zweiter Wandertag seinem Ende entgegen…

 
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TAG 3: Mittwoch, 4. August: Capanna Starlaresc – Capanna Masnee

Ausgeschlafen machen wir uns erst gegen 9:30 Uhr auf den kurzen Weg zu unserem nächsten Etappenziel, der Capanna Masnee, nur etwa 1h10min von der Capanna Starlaresc entfernt. Doch der Wetterbericht hält Wort und es fallen schon am Vormittag wieder erste Regentropfen. Trotzdem ist die Stimmung am See auch bei diesem Wetter wunderschön und ein wenig mystisch.

Kaum losgelaufen fällt mir auf, dass Samuel heute – im Gegensatz zu den zwei vergangenen Tagen – zum ersten Mal wieder sein gewohnt strammes Marschtempo draufhat. Die Welt scheint wieder in Ordnung zu sein! Ich kann mehr oder weniger Schritt halten und so erreichen wir schon nach kurzer Zeit wieder den Grat, von dem aus es nicht mehr weit bis zur Masnee-Hütte ist.

Nach einer kurzen Orientierung im «Hüttendorf», bestehend aus einem Koch-Rustico, einer «Refektoriums-Hütte», einem Dusch- und WC-Rustico und zwei Schlaf-Rustici, machen wir uns noch einmal auf den Weg und steigen ab zum Lago Pianco, einem wunderschöner Bergsee mit atemberaubend schönen Zeltplätzen.

Kaum sind wir jedoch unten angelangt setzt schon wieder ziemlich heftiger Regen ein, so dass nicht einmal ich Lust auf ein Bad habe. Also steigen wir nach einer kurzen Besichtigung im Regen bereits wieder nach oben und geniessen einen Dolce Far Niente Nachmittag in der warmen Koch-Hütte. Nach einer Weile kommt mir die Idee, dass dies die lang ersehnten ruhigen Stunden sein könnten, in denen ich mich endlich ein wenig der Planung von Aktivitäten für die kommenden Monaten und vor allem fürs nächste Jahr widmen könnte.

Ich spüre, dass ich gerne noch mehr Aktivitäten in der Natur anbieten möchte, doch irgendwie hapert es nach wie vor ein wenig mit der Umsetzung dieses Vorhabens. Für das, was mir vorschwebt, ist es nötig, dass ich ein Wandergebiet sehr gut kenne und das ist – auch weil ich gerne immer wieder an neue Orte gehe – bisher nur in wenigen Regionen der Schweiz wirklich der Fall.
Die Gegend rund ums Lassalle-Haus beispielsweise kenne ich mittlerweile sehr gut und die beiden Outdoor-Retreats, die ich dieses Jahr dort leiten durfte, waren ganz toll und bestärkten in meinem Wunsch, in Zukunft solche Retreats vermehrt auch in anderen Wandergebieten anzubieten. Dies bedingt aber auch, dass ich von anderen Dingen weniger mache oder manche Aktivitäten mittelfristig vielleicht sogar ganz einstelle, damit ich die nötige Zeit finde, mich mit einer Gegend wirklich vertraut zu machen…

Den Abend verbringen wir schliesslich zu fünft mit einem Deutsch/Schweizer Paar aus Köln und einem weiteren Samuel – einem Maurer aus Stuttgart, der alleine unterwegs ist – in der gemütlichen Küchenhütte mit dreimaligem Pastakochen.

 
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TAG 4: Donnerstag, 5. August: Capanna Masnee – Capanna Spluga

Nach dem ruhigeren Tag gestern folgt heute wieder eine grössere, siebenstündige Etappe und wir starten um 07:30 Uhr wieder ohne Frühstück. Am Anfang führt die Route über einen sehr schönen rot-weiss markierten Weg, anschliessend wechselt es dann auf blau-weiss und eine längere, recht öde Hangquerung auf «Geisspfaden» erfordert ein wenig Durchhaltevermögen. Etwa um 10:00 Uhr gönnen wir uns eine kleine Frühstückspause, während der Maurer-Samuel an uns vorbeispeedet. Er hat sich für den heutigen Tag zwei siebenstündige Etappen vorgenommen. Mal schauen, ob er das in die Tat umsetzen kann…

Nach dem Frühstück folgt ein recht steiler Abstieg von etwa 600 Höhenmetern, an dessen tiefstem Punkt die Capanna Cuasca liegt. Dies ist eine sehr kleine Hütte, die wohl nicht allzu oft frequentiert wird, aber als Notunterkunft dienen kann.
Nach dieser Capanna folgt sogleich wieder ein steiler Aufstieg von etwa 300 Höhenmetern, zu einer Hochebene mit einem namenlosen Lago, an dem wir vor zwei Jahren schon einmal outdoor übernachtet haben. Erhitzt vom Aufstieg nehmen wir sogleich ein sehr erfrischendes Bad, das uns – vermutlich wegen des vielen Regens – viel kälter als vor zwei Jahren erscheint.

Nach der Mittagspause am See führt der Weg über den Passo dei Due Laghi und dann vorbei an einem weiteren See, der sich auch zum Baden eigenen würde, und dann noch ziemlich lange auf und ab wieder auf Geisspfaden bis zur Capanna Spluga. Vor den Spluga-Hütten (es sind auch wieder mehrere) treffen wir noch auf einen sehr schönen Bach mit verschiedenen «Badewannen».

Endlich auf der Hütte angekommen, finden wir schon einige andere Wanderer dort vor. Auch Maurer-Samuel ist hier am chillen. Die Doppel-Etappe war selbst für ihn ein wenig zu viel, aber als sich zunehmend mehr Wanderer auf der Hütte einfinden, entscheidet er sich in seinem Ultra-Leichtzelt an einem kleinen See oberhalb der Hütten zu übernachten.
Wir hingegen machen die Neuankömmlinge jeweils auf die Unterscheidung der zwei Schlaf-Hütten aufmerksam: Es gibt eine Schnarcher- und eine Nicht-Schnarcher-Hütte. In welcher wir sind, versteht sich von selbst.

Gegen Abend ist Full House, was nach den ruhigen regnerischen Tagen auch für uns fast ein wenig ein Kulturschock ist. Die meisten Wanderer sind deutschschweizer Zweierteams in den Formationen «Männlein-Weiblein» oder «Weiblein-Weiblein», die vom Tal aus hochgewandert sind.
Für eine kleine Unstimmigkeit in unserem «Zweierteam» sorgt der nur mässig schmackhafte Quinoa-Eintopf, der auch nach einer gefühlten Ewigkeit (in Tat und Wahrheit ca. eine Stunde) immer noch nicht fertig ist. Neben der mangelhaften Schmackhaftigkeit drehen sich die Diskussionen deshalb auch um die richtige bzw. schnellste Zubereitungsart…
Ausser uns komische Käuzen essen natürlich wieder alle anderen Pasta oder Picknick aus dem Rucksack. Ich freue mich schon, wenn es bei uns auch endlich wieder einmal Pasta gibt!

Nach dem Abendessen gehen wir zur Stimmungsbereinigung nach dem Quinoa-Knatsch noch ein wenig Schaukeln auf der Riesenschaukel oberhalb der Hütten und geniessen die schöne Abendstimmung und die Weitblicke ins Tal.

 
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TAG 5: Freitag, 6. August:
Capanna Spluga – Rifugio Sambuco – Monte Zucchero – Capanna Osola

Trotz voll belegtem 12er-Massenschlag schlafe ich erstaunlich gut und stehe am Freitag voller Tatendrang auf. Heute genehmigen wir uns ein kleines Frühstück, sind aber trotzdem noch bei den ersten, die aufbrechen. Unglaublich, was für ein Gelage manche Wanderer schon beim Frühstück veranstalten. Vermutlich gleicht sich die grössere Anstrengung durch die zusätzlich herumgetragenen Nahrungsmittel-Kilos mit den zusätzlich zugeführten Kalorien am Schluss wieder aus – oder aber sie landen auf den Hüften und bieten dann eine etwas bessere Polsterung für die Rucksackgurte.

Doch zurück zu unserer heutigen Wanderung: Der erste Teil führt uns auf einem wunderschönen Weg hoch zur Bocchetta Canova – welch eine Wohltat nach den mühsamen blau-weiss Pfaden vom Vortag wiedermal auf einem richtigen «Weg» unterwegs zu sein. Auf dem Pass tanken wir einige Sonnenstrahlen und verlassen dann definitiv die Via Alta. Nach einem Abstieg von ca. 500 Höhenmetern folgen wir der Abzweigung zur Sambuco-Hütte und ich wechsle endlich wieder auf die Barfuss-Schuhe.

Bei der Hütte angekommen sind wir nur mässig begeistert – es gibt kein fliessendes Wasser und auch sonst ist die Hütte im Vergleich zu den super ausgebauten Via Alta Hütten doch noch sehr «rustikal», obwohl zu sehen ist, dass auch hier Renovationsarbeiten im Gang sind.

Wir genehmigen uns ein Zmittag vor der Hütte und machen uns anschliessend auf den Weg zum Monte Zucchero (2’736 m).
Auf die Idee in der grössten Mittagshitze noch einmal 800 Höhenmeter aufzusteigen können auch nur wir kommen. Doch mit kaum Gepäck gewinnen wir schnell an Höhe.
Kurz nach der Hütte überquert der Wanderweg einen Bach mit einem wunderschönen Badebecken – vielleicht dem schönsten, das wir bisher gesehen haben. Wir merken uns die Stelle für ein andermal…

Das letzte Stück des Weges nach der Bocchetta Mügaia ist noch ein wenig anspruchsvoller mit einzelnen Stellen im blau-weissen Bereich (obwohl rot-weiss markiert) und definitiv nur bei absoluter Schwindelfreiheit zu empfehlen. Oben angekommen werden wir mit einer wunderschönen Aussicht in alle Richtungen belohnt.

Nachdem ich den ganzen Aufstieg problemlos in den Barfussschuhen bewältigt habe, wechsle ich für den Abstieg wieder auf die Bergschuhe. Besonders bei den etwas heikleren Stellen zeigt sich nun wie viel mehr Gripp die Barfusschuhe hatten – vergleichbar mit Kletterfinken – und ich fühle mich mit den Bergschuhen wesentlich unsicherer. Dafür taugen die Bergschuhe jetzt mehr für die Geröllfelder und geben den Füssen insgesamt mehr Schutz. So kommen wir auch im Abstieg wieder gut voran und sind um etwa 17:00 Uhr wieder bei der Sambuco-Hütte.

 
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Weil uns die Hütte nicht so gut gefällt, entschliessen wir uns, trotz des fortgeschrittenen Nachmittags noch zur Osola-Hütte abzusteigen. Zuvor hatten uns Einheimische den Tipp gegeben, anstatt des offiziellen Weges, den alten Wanderweg zu nehmen. Diese Wahl wird bald belohnt mit einem Naturspektakel der ganz besonderen Art. Während des Abstiegs bemerkt Samuel plötzlich, dass der auch sonst schon wunderschöne Wasserfall ganz hinten im Tal auf einmal in allen Regenbogenfarben zu leuchten beginnt.
So etwas haben wir beide noch nie gesehen und es bleibt uns nichts anderes übrig, als ganz verzaubert stehen zu bleiben und dieses Naturschauspiel auf uns wirken zu lassen. Für mich erscheint es beinahe surreal und nicht von dieser Welt. Wirklich ein absolut magischer Moment, währendem die Zeit stillzustehen scheint und alle Müdigkeit von einem abfällt.

Nach einer Weile verblassen die Farben und wir steigen vollends ab und kommen bald zur Osola-Hütte, wo wir zu unserer grossen Überraschung die Einzigen sind. Wir genehmigen uns das erste Mal seit fünf Tagen eine heisse Dusche und machen uns anschliessend an die Zubereitung eines üppigen Nachtmahls. Da wir selber nicht mehr viel übrig haben, müssen wir mit dem Vorlieb nehmen, was der Vorratsschrank der Hütte zu bieten hat. Leider keinen Sugo, aber wenigstens Spaghetti in Hülle und Fülle. So gibt es Spaghetti mit verschiedenen «Saucen» – Ketchup, Sandwich-Crème, Fleischgewürz und Olivenöl. Nach so einer Tour schmeckt das herrlich, auch wenn man zuhause so etwas vermutlich nie im Leben essen würde.

In der Zwischenzeit ist ausser uns noch Nicola, einer der Hüttenwarte, die ca. einmal in der Woche in der Hütte nach dem Rechten sehen, eingetroffen. Von ihm erfahren wir allerlei Spannendes rund um die Hütte und ums Osura-Tal. Unter anderem wurde vor etwa 12-13 Jahren eine Gruppe Deutschschweizer im Winter hier eingeschneit. In ihrer Not verfeuerten sie das ganze Inventar der Hütte – Tische, Bänke, sogar die Betten. Anschliessend wurde dann die ganze Hütte renoviert und vergrössert.

Zum Dessert bietet uns Nicola noch verschiedene Schnäpse an uns so wird es ein lustiger Abend…

 
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TAG 6: Samstag, 7. August: Capanna Osola – Brione / Verzasca

Für den heutigen Tag ist «nur» noch der Weg nach unten durchs wunderschöne Val d’Osura nach Brione geplant. «Nur» steht in Anführungszeichen, da es doch noch einmal fast 800 Höhenmeter nach unten geht, dies aber recht gemächlich und auf ca. 2h30min verteilt.

In den frühen Morgenstunden geniesse ich bei einigen Tassen Tee die Ruhe vor der Hütte, währendem alle anderen noch schlafen. Besonders toll finde ich, dass es hier absolut keinen Handyempfang gibt. Zwar hat uns Nicola einen Ort verraten, wo man – für Notfälle – vermutlichen ein schwaches Handysignal bekommen könnte, aber ich habe heute Morgen wirklich absolut kein Bedürfnis dies zu verifizieren.
Ich merke, wie ich mich mehr und mehr in dieses Tal verliebe und verspüre eine grosse Dankbarkeit, dass wir in einem Land leben, wo es noch so wilde und beinahe von der Zivilisation «verschonte» Orte gibt…

Bevor wir losmarschieren, gönnen wir uns ein letztes Müsli-Frühstück, an welchem wohl in der Nacht auch schon eine Maus ihre liebe Freude hatte. Mäuse gibt es in fast allen Hütten, weshalb man die Essensvorräte am besten irgendwo aufhängen sollte. Dies hatten wir bis zu diesem letzten Abend auch immer getan…
Ein wenig neidisch betrachte ich die dick mit Nutella bestrichenen Zopfscheiben von zwei jungen Tessiner Burschen, die mitten in der Nacht noch auf der Hütte angekommen waren und etwa um Mitternacht zuerst Holz gehackt und anschliessend draussen ein Gelage ums Feuer veranstaltet hatten.
Als ich in der Nacht einmal aufs Klo musste, kam mir das schon ein wenig unheimlich vor und ich fühlte mich an manche Märchen aus Kindertagen erinnert, wo von Räubern berichtet wurde, die in der Nacht im Wald ums Feuer sitzen und düstere Pläne schmieden. Jetzt bei Tageslicht sahen die Burschen aber ganz harmlos und sogar richtig sympathisch aus.

Entgegen der Wetterprognose vom Vortag, die eigentlich erst am Nachmittag Regen gemeldet hatte, giesst es heute bereits seit den frühen Morgenstunden quasi ununterbrochen. Ein guter Test für unsere – teilweise mangelhaft imprägnierte oder inexistent, da zuhause gebliebene – Regenausrüstung.
Leicht enttäuscht bin ich ob meinem Hyperlight Rucksack, der eigentlich wasserdicht sein sollte, sein Versprechen aber nicht wirklich hält. So ist die trockene Hose, die ich nach der Wanderung eigentlich gerne angezogen hätte, nun halt ähnlich nass, wie diejenige, die ich schon trage. Trocknen mit eigener Körperwärme ist also angesagt!

In solchen Momenten erinnere ich mich immer wieder gerne an meine Bhutan-Reise, auf der mich nachhaltig beeindruckt hat, wie die dortige Bevölkerung jegliche Witterung und Temperatur stoisch in der gleichen Kleidung/Nationaltracht aushielt, währendem wir Touristen beständig mit dem An- und Ausziehen von Jacken, Pullis, Hosen, Mützen, Handschuhen, Sonnenhüten etc. beschäftigt waren.

Trotz des Regens finde ich auch diesen letzten Wegabschnitt wunderschön und in diesem Wetter auch wieder ein wenig mystisch. Der Wanderweg verläuft – mal etwas näher, mal etwas weiter entfernt – dem Fluss Osura entlang und unterwegs gibt es immer wieder wunderschöne Badestellen mit dem beeindruckend klaren türkis-blau-grünen Wasser, für welches die Verzasca-Gegend bekannt ist. Überhaupt ist der Wasserreichtum dieser Gegend total beeindruckend. Von allen Seiten her ergiessen sich Wasserfälle ins Tal und ich fühle mich ein wenig an Rivendell/Bruchtal aus Lord of the Rings erinnert – dieses paradiesische Tal, in dem die Elben leben…

Schliesslich sind wir in Brione angekommen und nachdem wir uns, so gut es geht, ein wenig getrocknet haben, suchen wir zur Stärkung eine Pizzeria auf.
Auch wenn wir noch ein paar weitere Tage zur Verfügung gehabt hätten, fühlt sich die Reise jetzt «rund» an und wir beschliessen, heute Nachmittag in die Zentralschweiz zurückzukehren. Praktischerweise ist sogar direkt vor dem Restaurant eine Bushaltestelle und so sind wir – diesmal durch und nicht über den Neat – in gut 2h30min schon wieder zurück in Luzern…

 
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TAG 7: Sonntag, 8. August: Luzern – Luzern

Nun bin ich wieder hier im schönen Luzern, wo ich mich, beinahe zu meiner eigenen Überraschung, seit einigen Jahren mittlerweile doch recht heimisch fühle. Doch wieder ganz hier angekommen bin ich nach diesen intensiven Wandertagen heute noch nicht und es fühlt sich ein wenig ähnlich an, wie nach so manchem Yoga- oder Meditations-Retreat, nach welchen es auch immer öfter einige Zeit braucht für die Landung zurück im Alltag. Oftmals fehlt einem dann die Zeit dazu, das Erlebte zu verarbeiten und zu integrieren, was sehr schade ist, weil dadurch meist sehr viel Wesentliches verloren geht. Diesmal habe ich jedoch viel Zeit fürs Landen – ja eigentlich noch fast eine Woche ohne Yogaunterricht und Massagen.

So geniesse ich am Sonntag einen «Höhlentag» und lasse die vergangenen Tage vor meinem inneren Auge Revue passieren.
In meinen Retreats frage ich die Teilnehmenden am Schluss des Kurses oft nach ihrer Essenz bzw. ihrem «Elixier» der gemeinsamen Zeit. Was ist diesmal mein Elixier?

Ich merke, dass mich von den verschiedenen Personen, die wir während den stillen Bergtagen getroffen haben, vor allem dieser «Maurer-Samuel» nachhaltig inspiriert und fasziniert hat. Wie er auf seinen Reisen so Tag für Tag ganz mit sich und der Welt zufrieden scheinend alleine unterwegs ist. Einmal hat er sogar während vier Monaten von Nord nach Süd ganz Neuseeland längs durchwandert…
Wenn ich so an ihn denke, merke ich, wie eine Sehnsucht in mir aufkommt. Eine Sehnsucht nach All-ein-sein und nach mehr und längeren Naturerfahrungen.

Das allmorgendliche Aufbrechen und Losmarschieren hat etwas ungemein Therapeutisches, das ist mir auf dieser Mehrtageswanderung wieder einmal so richtig bewusst geworden. Altes loslassen und offen, neugierig und vertrauensvoll in den neuen Tag hineinlaufen… Davon möchte ich mehr – sowohl für mich selber, aber auch für die Menschen, die gerne gemeinsam mit mir unterwegs sind.

Durch den heutigen Tag begleitet mich auch das Buch «Herzschlag und Trommel» von der Sängerin und Schamanin Orna Ralston, die ich schon ein wenig durch ihre wunderbare Musik kennenlernen durfte. Es ist so spannend, dass ich es kaum weglegen kann. Vieles davon berührt mich und macht mir Mut auch noch mehr meinen eigenen Weg zu gehen.

 
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Vor rund einem Jahr habe ich vier meiner wöchentlichen Yogakurse aufgegeben, was für mich ein grosser Schritt in die Freiheit war.
In der Zwischenzeit und vor allem seit Aufhebung des zweiten Lockdowns haben sich bereits wieder (zu) viele Aktivitäten einen Weg in meinen Terminkalender erschleichen können und ich spüre das grosse Bedürfnis, wieder einmal «auszumisten», um mehr Zeit in der Natur verbringen zu können.

So bitte ich euch, liebe Leser*innen nun noch einmal um euer Verständnis, wenn es vielleicht in den nächsten Monaten manchmal etwas länger dauern wird, bis ich Emails beantworte, bis es Massage- oder Privatlektions-Termine gibt oder wenn ich vielleicht gewisse Aktivitäten temporär oder bis auf Weiteres einstellen werde…

Vielleicht kann dir dies ja auch selber ein Ansporn sein, um immer wieder einmal innezuhalten und dich selbst zu fragen, welche von deinen ganzen Aktivitäten wirklich nötig und sinnstiftend sind…

 
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Gerda Imhof2 Comments